Leseprobe 

Das Buch beginnt mit dem Tag der Diagnose.

 7.00 Uhr morgens. Das Telefon klingelt. Im Halbschlaf kriege ich mit, wie Andreas den Hörer abnimmt. Er ist gerade von der Nachtschicht nach Hause gekommen. Plötzlich steht er an meinem Bett und sagt, ich soll aufstehen. Jemand aus der Praxis hat angerufen. Man bittet uns, heute Morgen noch mal mit Annika zu kommen. „Die wollen noch ein paar Untersuchungen machen“, sagt Andreas. Was untersucht werden soll und warum, hat er nicht gefragt. Bei mir gehen sofort die Alarmglocken an und ich springe aus dem Bett. Wenn der Arzt in aller Herrgottsfrühe hier bei uns zu Hause anruft und uns in die Praxis bittet, dann hat er bereits eine Vermutung. Es muss etwas ganz Schreckliches sein, wenn das nicht bis mittags Zeit hat. Die Blutergebnisse müssen also schon da sein. Und irgendetwas müssen sie in Annikas Blut gefunden haben. Mein Herz beginnt zu rasen. Tausend Gedanken jagen mir durch den Kopf, einer schlimmer als der andere.

Gott sei Dank ist Andreas da. Er muss mit, unbedingt. Begeistert ist er nicht, er ist müde und möchte schlafen. Ich hole Annika aus dem Bett. Vielleicht hat der Arzt so früh angerufen, weil der Vormittag voll gepackt ist mit Terminen und er uns jetzt am besten dazwischenkriegt. Krampfhaft versuche ich mich zu beruhigen - ohne Erfolg. Mein Körper ist wie ein Vulkan, der jeden Moment auszubrechen droht.

Wir brauchen dieses Mal nicht warten. Die Arzthelferin sagt, dass der Doktor ein Röntgenbild von Annikas Lunge machen will. Darauf kann ich mir nun gar keinen Reim machen. Annika legt sich schon mal auf den Röntgentisch. Es dauert noch ein paar Minuten, bis Doktor Liebrecht Zeit hat. Ich schaffe es nicht, ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Mein ganzer Körper arbeitet auf Hochtouren. Dann kommt der Arzt. Er erklärt mir, dass einige von Annikas Blutwerten so verändert seien, dass man eine ernstere Krankheit nicht ausschließen könne. Ich falle ihm ins Wort und will wissen, was er vermutet. Ich sage mit warnender Stimme, dass er nicht versuchen soll, mich anzulügen. Er sieht mir an, dass er mich mit vorsichtigen Worten nicht mehr beruhigen kann. Er holt tief Luft und sagt: „Na gut, wenn Sie mich so fragen, ich tippe auf Leukämie.“

Da ist es. Leukämie! Heute Morgen schon ´zig mal gedacht, gefühlt, weg geschoben und jetzt hat er es ausgesprochen. Der Vulkan bricht aus! Ich sehe keine Annika und keinen Andreas mehr, ich muss raus hier, muss es in die Welt schreien: Mein Kind hat Krebs! Ich renne aus dem Zimmer, aus der Praxis, raus auf die Straße. In meinem Kopf ist alles ausgelöscht, es hämmert nur der eine Gedanke: Leukämie - jetzt ist alles vorbei.

 Von den Grenzen der Medizin.

 Frau Doktor Binder klärt mich heute über den weiteren Verlauf der Behandlung auf. Das erste Protokoll ist für uns nächsten Samstag nach der Endoxan-Infusion zu Ende. Dann kommt eine Randomisierung, was immer das auch ist und anschließend das zweite Protokoll, Protokoll M. Davon gibt es zwei verschiedene, sagt Frau Binder. Sie heißen M und MCA. So verschieden sind sie eigentlich gar nicht, das MCA-Protokoll enthält lediglich ein Medikament mehr, nämlich das Alexan. Nun hatte ich geglaubt, die Kinder werden aufgrund verschiedener Kriterien, vielleicht nach Risikogruppen in die verschiedenen Protokolle eingeordnet. Als ich nachfrage muss ich feststellen, dass ich mich getäuscht habe. „Randomisierung heißt nichts weiter als: dem Zufall überlassen“, klärt mich Frau Binder auf. Fassungslos höre ich ihr zu. „Das erweiterte MCA-Protokoll ist eine Idee der Forscher, von der sie sich höhere Heilungsraten erhoffen“, fährt die Ärztin fort. Um jedoch zu testen, ob es wirklich mehr bringt, teilt ein Computer des Kinderkrebsregisters alle Kinder in Deutschland in gleich große und gleich starke Gruppen ein. Die eine Gruppe durchläuft das M-, die andere Gruppe das MCA-Protokoll. Diese so genannte Studie läuft über fünf Jahre. Am Ende wird sie ausgewertet und festgestellt, in welchem Protokoll die Heilungsrate höher war. Auf diese Weise hat man sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf immerhin 80 Prozent Heilungsrate bei den Leukämien „heraufprobiert“. So lange die bahnbrechenden Erkenntnisse im Bereich Krebs fehlen, ist dies die einzige Möglichkeit, Veränderungen in der Therapie zu testen, um eine immer bessere Medikamentenzusammenstellung zu finden, die dann hoffentlich irgendwann einmal die angestrebten 100 Prozent Heilungsrate bringen wird. Natürlich haben Eltern das Recht, sich dieser Randomisierung nicht zu unterwerfen, sondern sich selber für das ein oder andere Protokoll zu entscheiden. Ich habe also drei Möglichkeiten: M, MCA oder den Computer. Die meisten Eltern überlassen dem Computer die Entscheidung, weil sie es selber nicht können. Wie sollen sie auch? Vor- und Nachteile haben beide Protokolle. Protokoll M ist das bewährte und bringt die 80 Prozent. MCA könnte mehr bringen oder auch nicht. Vielleicht sogar weniger. Das Kind bekommt ein Medikament mehr, ein Gift gegen die Krebszellen mehr, vielleicht aber mehr als nötig. Komischerweise hat es mein Vertrauen in die Wissenschaft nicht erschüttert, heute ganz deutlich an die Grenzen der Medizin gestoßen zu sein. Zu wissen, hier ist das Mediziner-Latein am Ende, hier hilft nur noch die Versuchskaninchenmethode, macht mir im Moment jedenfalls keine Angst. Ich wusste von Anfang an, dass die Heilungschancen bei 80 Prozent und nicht mehr liegen, und heute wird mir auch klar, dass man es nicht dabei belassen will und kann. 80 von 100 Kindern werden gesund, das sind genau 20 Kinder zu wenig.

Die Distanz mancher Familienmitglieder

Anschließend habe ich Hilde, Andreas’ Mutter am Telefon. Sie will Annika besuchen. Ist ja irre, dass sich diese Frau nach über sechs Monaten doch noch daran erinnert, dass sie ein krebskrankes Enkelkind hat. Ich frage sie, ob sie gesund ist und erkläre, dass Annika nur wenig Leukos hat. „Och, das ist ja schön“, antwortet sie. Mir fällt alles aus dem Gesicht. Diese von Dummheit geschlagenen Leute bringen mich jedes Mal zur Raserei, vor allem, wenn sie zur Familie gehören. Woher soll sie auch Bescheid wissen, sie war ja seit Annika krank ist erst ein Mal hier. Sie weiß nichts von der Krankheit und der Therapie, gar nichts. „Das ist nicht schön, das ist gefährlich für sie“, motze ich sie an. „Dadurch hat sie nämlich so gut wie keine Abwehrkräfte.“ „Och, das ist ja dann nicht so schön“, kommt vom anderen Ende. Ich gebe es auf. Nachmittags kommt Frau Potter. Heute geht es um das Rechnen mit Geld. Annika muss einen Mundschutz aufsetzen, weil die Lehrerinnen in der Schule mit sehr vielen Kindern in Berührung kommen. Momentan sind viele Schulkinder krank, auch bei Daniel und Nils in der Klasse. Grippale Infekte und Magen- und Darminfekte sind im Umlauf. Anschließend kommt Hilde und freut sich, dass Annika soviel Hunger hat. „Hühnersuppe musst du dem Kind kochen, das stärkt die Abwehrkräfte“, sagt sie zu mir. Ich ringe um Beherrschung. Da kommt diese Frau nach sechs Monaten hier an, hat von Tuten und Blasen keine Ahnung und will mir erzählen, was gut für mein Kind ist. Andreas merkt ausnahmsweise auch mal was und weicht seiner Mutter nicht von der Seite. Er weiß genau, dass ich in Gedanken meine Hände schon an ihrem Hals habe.

Die starke Bindung, die zwischen Müttern und Kindern wächst 

Wir brauchen erst gegen Mittag in Münster zu sein. Annika hat heute einen Termin zum MR (Magnet-Resonanz-Tomografie) vom Kopf. Sie muss in die Röhre. Ich hatte mir das Ding schon ziemlich groß vorgestellt, aber so gewaltig hatte ich es dann doch nicht erwartet. Die Maschine ist so groß wie ein ganzes Zimmer. Davor eine Art Tisch, auf dem man liegt. Mit dem wird man in diese Röhre hinein gefahren, die rund wie ein Tunnel ist und durch die ganze Maschine geht. Aber sie ist ziemlich eng, und man kann schon Platzangst kriegen. Am Anfang bekommt Annika Panik, aber dann lässt sie sich unter den beruhigenden Worten der Schwester doch in die Röhre fahren. Das Gerät ist sehr laut, so dass ich während der Aufnahmen nicht mit Annika reden kann. Aber sie macht das ganz super. Sie liegt still in der Röhre, und ich stehe am Ende und streichele ihr Bein, damit sie weiß, dass ich noch da bin. 30 Minuten sollen die Aufnahmen dauern. Irgendwann streckt sie mir ihre Hand entgegen und ich muss mich lang machen, damit ich sie erreiche. Sie fasst meine Hand und drückt sie fest. In dem Moment ist es mir, als wolle sie sich bei mir bedanken, dass ich diesen Weg mit ihr gehe.

Anschließend dürfen wir nach Hause. Draußen regnet es. Annika kann nur sehr langsam gehen. Sie ist wackelig auf den Beinen und muss aufpassen, dass sie nicht hinfällt. Also nehmen wir uns Zeit und lassen uns nass regnen. Annika ist heute besonders schlapp und müde. Trotzdem kann sie abends schlecht einschlafen. Ich vermute, sie ist etwas nervös wegen der Punktionen morgen. Vielleicht hat sie aber auch dieser Monsterapparat mehr aus der Ruhe gebracht als ich dachte. 

Die Auswirkungen der Sonderstellung kranker Kinder.

Abends beim Abendbrot: Es gibt Rührei. Annika möchte aber kein Rührei, sie möchte lieber Pizza. Also mache ich für Annika eine Pizza. Nach ein bis zwei Bissen verkündet sie, sie wolle doch lieber Rührei und schiebt die Pizza beiseite. „Du wolltest Pizza. Die habe ich extra für dich gemacht und jetzt isst du sie auch“, bestimme ich. Sie rastet aus dem Stand aus, verschränkt die Arme vor der Brust und motzt: „Dann esse ich eben nie mehr was.“ So! Das ist meine Herausforderung. Dieses Kind hat einen Dickkopf, dass ich in den Tisch beißen könnte vor Wut. Sie glaubt inzwischen, ihre Krankheit berechtige sie dazu, ihren Willen bedingungslos durchzusetzen, und zwar immer und gegenüber jedem. Ich habe das schon öfter bei ihr erlebt, aber nun ist das Maß voll. Ich schwöre mir, dass ich von dieser Minute an darauf achten werde, dass Annika ihre Grenzen kennt und auch einhält, sonst wächst hier neben mir ein kleiner Tyrann auf. „Und wenn die Welt untergeht, du bekommst heute kein Rührei“, schimpfe ich. Sie heult und schreit und wirft sich lang auf die Eckbank. Das sind Reaktionen, die ich sonst nicht von ihr kenne. Ich lasse sie toben, muss mir aber immer wieder sagen: - nicht weich werden -. Immerhin hat sie Krebs, aber sie könnte ja schließlich auch wieder gesund werden. Sie hält ihre »Ich-koch-sie-weich-Strategie« erstaunlich lange durch, etwa eine dreiviertel Stunde. Dann schicke ich sie ins Bett. „Auf dich brauch ich gar nicht mehr zu hören“, brüllt sie, und stapft wütend in ihr Zimmer. Eine halbe Stunde später ruft sie von oben: „Mama, ich habe meinen Stern im Wohnzimmer vergessen, bringst du ihn mir bitte?“ Ich bringe ihr den Stern nach oben. „Schlaf gut, Maus“, sage ich und will aus dem Zimmer gehen. „Mama“, kommt unter der Decke hervor, „es tut mir leid, wegen der Pizza eben. Ich hab dich lieb.“ Nun kann ich wirklich nicht mehr anders und muss sie in den Arm nehmen und knuddeln. „Ich hab dich auch lieb, Maus.“

 Von der Routine in einer Uni-Klinik.

 Heute findet ein Elternnachmittag statt. Auf der Station im Besprechungszimmer treffen sich Eltern, um miteinander zu reden und sich auszutauschen. Susanne und ich sind auch dabei. Annika und Julia gucken im Zimmer »Der König der Löwen«. Etwas später kommt Professor Himmel dazu und beantwortet Fragen. Eine Mutter will wissen, ob die Erkrankung ihres Kindes nicht auch in einem nahe gelegenen Krankenhaus behandelt werden könne. Auf so eine Idee käme ich gar nicht. Da es sich bei diesem Jungen um einen Knochentumor handelt, verneint Professor Himmel diese Frage. So eine Behandlung würden kleinere Häuser schon von sich aus ablehnen, weil sie die technischen Möglichkeiten, beispielsweise einen Computertomografen, gar nicht haben. Eine ganz normale „Feld-, Wald- und Wiesenleukämie“ könne man in manch kleineren Häusern behandeln lassen, aber einen Knochentumor nicht. Feld-, Wald- und Wiesenleukämie! Ich bin geschockt. Für mich ist das so ungefähr der Weltuntergang, und für ihn ist es eine der leichteren Übungen. Er bemerkt meinen sparsamen Gesichtsausdruck und sagt, dass schon fast 90 Prozent aller Kinder gesund werden würden, und an den letzten zehn Prozent würde er arbeiten. Einerseits bin ich erleichtert, andererseits auch ziemlich sauer, denn durch seine Ausdrucksweise fühle ich mich meines Rechtes beraubt, genauso viel Angst um mein Kind haben zu dürfen, wie andere Mütter. Feld-, Wald- und Wiesenleukämie ... das muss ich erst mal sacken lassen. Susanne fragt noch mal nach der Transplantation. Dabei erwähnt Professor Himmel, dass Julia nicht nur eine andere Blutgruppe haben wird, sondern auch ein anderes Immunsystem, denn das wird auch im Knochenmark gebildet. Sie wird Antikörper gegen Krankheiten haben, die ihr Spender durchgemacht hat. Ihr eigener Impfschutz wird verschwunden sein. Dann fragt Susanne, ob er Hannover für die richtige Klinik für die Transplantation hält. Er zuckt mit den Schultern und sagt, Münster hätte bisher noch nicht mit Hannover zusammengearbeitet. Sie solle sich auf jeden Fall nach den Überlebensraten erkundigen. Susanne ist nach dieser Äußerung sehr verunsichert. 

Uni-Klinik, das bedeutet auch Studenten und unerfahrene Ärzte in der Ausbildung.

Um 19.00 Uhr kommt Doktor Michels und will Annika anstöpseln. Aber der Port ist nicht durchgängig, man kann nichts hineinspritzen, und es kommt auch kein Blut. Er zieht die Nadel wieder raus und sticht noch einmal. Annika hat nun restlos die Schnauze voll und strampelt aus Leibeskräften. Wieder hat es nicht funktioniert. Jetzt werde auch ich langsam sauer. Er nimmt die Nadel wieder heraus. Wir sollen erst mal eine viertel Stunde nach draußen gehen, sagt der Arzt. „Reden Sie in Ruhe mit ihrer Tochter und erklären Sie ihr, dass es wichtig ist, still zu halten“, fordert er mich auf. Er will die Panne scheinbar auf Annika abwälzen. Idiot! Ich kann mir Fransen an den Mund reden, mein Kind hat nun mal ein Problem mit Infusionsnadeln und jetzt ja wohl erst recht. Sie ist immerhin erst sieben Jahre alt und schon unzählige Male gestochen worden. Außerdem ist sie mit Sicherheit nicht das einzige Kind auf dieser Station, das so reagiert. Ich weiß, dass sie ihr Bestes gibt. Bei mir ist der Alarm ausgelöst: Noch ein falsches Wort, Onkel Doktor, und ich werde fünf Meter groß. Schließlich starten wir zum dritten Versuch. Ich habe mein Möglichstes gegeben, um Annika davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, dass sie ganz ruhig liegen bleibt. Innerlich habe ich das Gefühl, dass es gar nicht an ihr gelegen hat, sondern der Doktor zu dusselig ist. Es widerstrebt mir völlig, es ihr so darzustellen, als ob sie mit ihrer Zappelei dafür verantwortlich wäre. Doktor Michels ist angespannt, er holt noch zwei Schwestern zu Hilfe. Dieses Mal klappt es auf Anhieb, Annika reißt sich toll zusammen und er trifft. Na, Gott sei Dank! Dann sagt er entschuldigend zu mir, dass er die ersten beiden Male möglicherweise neben den Port gestochen hat. Es bestünde die Gefahr, dass er dabei den Schlauch, der vom Port zur Vene geht, beschädigt habe. Er will Annika vorsichtshalber an den Überwachungsmonitor anschließen. Er erklärt, dass Flüssigkeit ins Gewebe laufen und auf die Lunge drücken könnte, falls der Schlauch kaputt ist. Dann bekäme Annika Schwierigkeiten mit dem Atmen. Ich ringe um Fassung. Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ich grabe nun endgültig mein Kriegsbeil aus und schaue den Arzt giftig an. Wenn der Schlauch im Eimer ist, muss der Port raus, soviel steht fest. Heute Abend kann ich daran sowieso nichts mehr ändern, jetzt heißt es abwarten und hoffen, dass alles in Ordnung ist. Ich lobe Annika fürs Stillhalten, während sie sich etwas aus der Piekskiste aussucht. Dann gehen wir ins Zimmer. Ich ziehe Annika aus und die Schwester kommt, um sie an den Monitor anzuschließen. Um 22.00 Uhr gehe ich rüber zum Wohnheim. Gegen 23.00 Uhr rufe ich noch mal auf der Station an und erkundige mich, wie es Annika geht. Sie schläft und war, nachdem ich gegangen bin, gut zufrieden, teilt man mir mit. Ich rufe bei Andreas an und erzähle von unserer Pleite. Er flucht und schimpft auf den Arzt, anstatt mich zu beruhigen. Ich bin es schließlich, die sagt, dass Ärzte auch nur Menschen sind, und dass ich erst mal hoffe, dass alles in Ordnung ist.

Von verschiedenen Sichtweisen

Als ich Andreas zum zweiten Mal an der Strippe habe, erzählt er mir, dass der kleine türkische Junge in Annikas Zimmer einen Tumor im Kopf hat und dass er schon einmal operiert wurde. Er muss aber noch mal unters Messer, weil sie den Tumor nicht ganz entfernen konnten. Seine Mutter hat erzählt, dass die Chancen, dass ihr Sohn es schaffen wird, bei 50 Prozent liegen. Andreas meint, dass wir mit unserer Leukämie da besser dran wären. Mich bringen diese Prozente manchmal zur Raserei. Ich erkläre Andreas, dass 50 Prozent keine null sind und 80 Prozent auch keine 100. Was bedeuten diese Zahlen schon für jeden einzelnen. Nichts! Ob 99 Prozent oder ein Prozent, jede Mutter klammert sich bis zuletzt an dieselbe Hoffnung, nämlich an die, dass ihr Kind leben wird. Und anders geht es auch nicht. Fast zwanzig Kinder haben wir hier schon näher kennen gelernt. Wenn man als Durchschnitt eine Heilungsrate von 70 Prozent annimmt, soll ich mir dann vorstellen, dass sechs von ihnen sterben werden? Warum soll ich nicht hoffen, dass es bei dieser verdammten Krankheit 100 Prozent für jedes dieser Kinder geben wird. Nur, weil so eine dämliche Statistik es sagt? Andreas kann mit meinen Gedankengängen nicht mithalten.

Leukämie macht keine Unterschiede

Zunächst kommt Frau Salinski, Klinikunterricht steht auf dem Programm. Ich frage Brigitte, ob sie mit mir einen Kaffee trinken möchte. Die Zeit, wenn die Lehrerinnen da sind, lässt sich für eine Pause immer bestens nutzen. Unten in der Eingangshalle herrscht eine ungewohnte Betriebsamkeit. Eine Menge Reporter laufen hier herum. Die Männer mit den Kameras reden mit verschiedenen Leuten, die sich im Eingang aufhalten. Ich frage Brigitte, was wohl passiert sein könnte, aber sie weiß es auch nicht. „Vielleicht irgendein Jubiläum der Klinik“, mutmaßt sie. „Vielleicht ist irgendetwas mit der Gorbatschow“, überlege ich. „Keine Ahnung“, erwidert Brigitte. Wir gehen wieder auf die Station. Annikas Port wird noch mal abgetastet, dann wird das MTX angehängt. Mir ist ganz schön mulmig. Hoffentlich verträgt sie dieses Gift so einigermaßen. Um 13.00 Uhr schalten wir den Fernseher an. Gerade kommen die Nachrichten. Plötzlich geben sie es bekannt: Raissa Gorbatschowa ist tot. Sie starb heute Morgen an einem Kreislaufschock. Sie hat es also nicht geschafft. Ich bin komplett überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Natürlich weiß ich, dass alles Geld und Ansehen nichts nutzt, um gesund zu werden. Trotzdem haut es mich um, dass diese weltberühmte Frau, die mit der gleichen Krankheit wie Annika hier liegt, ein paar Türen weiter einfach so wegstirbt. Ich sehe mein Kind an, das auf dem Bett liegt und in ihrem »Chemo-Kaper-Buch« blättert. Sie nimmt von den Nachrichten keine Notiz.

Von der seelischen Belastung durch diese Krankheit.

Abends, als es dunkel wird, gehen Annika und ich zum Sankt-Martins-Singen. Wir machen nur eine kleine Runde, weil es draußen ziemlich kalt ist. Als wir wieder zu Hause sind, schreiben wir noch einen Brief an die Klasse 1 A. Kurz vor dem Schlafengehen bekommt Annika wieder das große Heulen. Als Grund dafür gibt sie erneut den Tod der Katze an. Langsam mache ich mir Sorgen und rede mit Ina darüber. Sie meint, dass Annika vielleicht weiß, dass sie sterben könnte und sich mit dem Tod auseinandersetzt. Sie macht den Umweg über die Katze, weil ihr Tod das letzte Ereignis war, an das sie sich erinnern kann, vermutet Ina. Ihre eigene Angst und Trauer kann sie vielleicht damit in Verbindung bringen. Ina rät mir, auf Annikas Fragen unbedingt einzugehen und auch ihre Trauer über den Tod der Katze ernst zu nehmen. Das fällt mir jedoch schwer, denn es macht mir Angst. Ich selber zweifle an der Existenz von Gott und einem Leben nach dem Tod. Annika fragt mich manchmal Sachen wie: „Kann man aus dem Himmel wieder auf die Erde hinunterklettern?“ oder „Wie sieht man im Himmel aus?“ Dann will sie wissen, ob Tote wirklich nie wieder lebendig werden können. Dahinter stehen für mich so Gedanken wie: - was wird aus mir, wenn ich tot bin und gibt es dann noch eine Verbindung nach zu Hause? - Ich weiß nie, was ich antworten soll. Ich habe mir selbst noch keine Gedanken über einen Himmel gemacht, von dem ich nicht glaube, dass es ihn gibt.  

Von den Grenzen der eigenen Kraft. 

Letzte Nacht hat es zum ersten Mal geschneit. In der Klinik gehen wir zuerst zum EKG, dann zum Echo und anschließend zum Röntgen. Auf Station 15 dürfen wir sofort zu Frau Binder rein, wir brauchen diesmal nicht ins Wartezimmer. Ich sitze noch nicht mal auf meinem Stuhl, als ich merke, dass Frau Binders Blick mich fixiert. „Sie sehen unzufrieden aus“, stellt sie fest. Ich zögere mit meiner Antwort und sie scheint zu spüren, dass ich lieber unter vier Augen mit ihr reden möchte. Sie schickt die Schwester aus dem Zimmer und fragt Annika, ob sie ins Spielzimmer gehen mag. „Serena backt dort mit den Kindern Waffeln. Holst du mir eine?“, bittet sie ihre kleine Freundin. Annika setzt sich in Bewegung, für ihre Ärztin tut sie fast alles. Bevor ich anfangen kann zu reden, kommen mir schon die Tränen. Ich erzähle von meinem Problem mit Annika, dass sie oft weint, traurig ist und Angst hat. Ich erzähle ihr auch, dass ich im Moment ebenfalls öfters völlig grundlos das große Heulen kriege, obwohl alles optimal läuft. Frau Binder lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. „Frau Schneider“, beginnt sie, „es ist das absolute Recht unserer Kinder hier, Angst zu haben und zu weinen. Das hat seinen Grund und seine Berechtigung. Sie machen während ihrer Zeit hier so vieles mit, das verarbeitet sein will. Das können sie nicht alles auf einmal schaffen. Das mit der Katze war seinerzeit vielleicht nicht so wichtig, aber nun ist sie alt genug, um das zu verwerten. Kinder verarbeiten die Dinge immer dann, wenn sie vom Entwicklungsstand her dran sind.“ Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Das zweite ist, es ist Herbst. Auch das drückt auf die Stimmung. Und drittens sind Sie müde. Jetzt, wo sich alles eingespielt hat und der Druck vom Anfang langsam nachlässt, leistet sich Ihre Seele einen Hänger. Am Anfang steht man voll unter Strom und holt alles aus sich heraus. In den Zeiten, wo es dem Kind gut geht, sacken Sie dann ab, auch das ist ganz natürlich. Gestehen Sie sich ein, dass Sie beide nur Menschen sind.“ Es tut gut, zu erfahren, dass ich bei weitem nicht die einzige Mutter bin, der es so geht. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so viel ihrer Zeit in Anspruch nehme. Schließlich fragt sie mich nach der Randomisierung und ich antworte ohne zu zögern, dass wir das normale Protokoll machen möchten und nicht das Neue. Ich bin selber erstaunt über meine Entschlossenheit. Meine Beweggründe sind ganz menschlicher Natur. Ich möchte es hinter mich bringen und Annika im März nicht noch mal aus der Schule nehmen müssen. Frau Binder begrüßt die Entscheidung. Sie sagt, dass auch sie mir zu diesem Protokoll geraten hätte, wenn sie gedurft hätte. Was das medizinisch Bessere ist, weiß sowieso niemand. „Das steht da oben irgendwo in dem großen Buch“, sagt sie. Es ist nur menschlich, dass ich mich so entscheide, wie es für Annika am besten ist. „Und dann ist es auch richtig“, sagt Frau Binder. Anschließend müssen wir zur Anästhesie-Sprechstunde wegen der Narkose am Freitag. Es ist immer dasselbe: Aufklärung über die Methode und das Narkoserisiko. Ich höre schon gar nicht mehr hin, nicke nur und unterschreibe brav alles, was unterschrieben werden muss. Zum Schluss nimmt Frau Binder Annika Blut ab. Super, wie die Kleine das inzwischen macht. Heute hilft sie sogar dabei. Frau Binder ist stolz auf sie. 

Von den Schattenseiten der Krankheit 

Um elf Uhr mache ich mich auf den Weg zu Jacquelines Beerdigung. Dank einer freien Autobahn bin ich bereits nach einer Stunde da. Die Tür der Kapelle steht offen, es ist noch niemand da. Vorne steht der kleine, hellblaue Kindersarg mit einem Blumengesteck und Jacquelines Stofftieren oben drauf. Um mir die Zeit zu vertreiben mache ich einen Spaziergang über den Friedhof. Als ich zurückkomme, sehe ich Tanja und ihren Mann vor der Kapelle. Plötzlich entdeckt sie mich und kommt auf mich zu. Sie freut sich, mich zu sehen und fällt mir in die Arme. Sie erzählt mir freimütig von den letzten Stunden im Leben ihrer Tochter. Morgens sei es ihr noch einigermaßen gut gegangen, sagt sie. Mittags sei es dann rapide schlechter geworden. Nur wenige Stunden später war sie tot. Tanja lobt das Verhalten der Schwestern und Ärzte auf der Station 17. Man habe sich warmherzig um sie gekümmert, erzählt sie. Keine falschen Hoffnungen, keine Verschleierungen und keine Belehrungen sondern eine informative Beratung und eine gefühlvolle Begleitung. Als wir in die Kapelle gehen, fällt mir auf, dass Tanja und ihre Familie kein Schwarz tragen sondern ganz normal farbig gekleidet sind. „Jacqueline soll uns so mitnehmen, wie wir immer waren“, erklärt sie mir. Um 13.00 Uhr beginnt die Trauerfeier. Ich bin erstaunlich ruhig und sogar von einem besonders friedlichen Gefühl beherrscht. Die Pastorin erzählt von dem Leben der Kleinen, ihrer Krankheit und den letzten Tagen im Krankenhaus. Sie lobt das Verhalten der Eltern, die offen mit ihrer Tochter über alles geredet haben. „Kinder haben ein tiefes Verständnis für die Zusammenhänge des Lebens. Man sollte sie nicht für dumm verkaufen“, sagt sie. „Kinder, die Fragen stellen dürfen, können uns Erwachsenen, die sich diesen Fragen stellen, mitnehmen in die längst vergessene Welt der kindlichen Fantasie.“ Dann schaltet sie den Kassettenrecorder ein und es ertönen zwei Kinderlieder, die Jacqueline besonders gern mochte. Zu hören ist die vertraute Stimme von Wolfgang und der Klang seiner Gitarre. Er hat die Kassette extra für diesen Tag aufgenommen. Plötzlich betritt Tanja die Kanzel. Die Menschen in der Kapelle wagen kaum mehr zu atmen. Ich sehe sie mit Hochachtung an und denke an die Zeit, als ich sie kennen lernte. Sie hat schon immer unverblümt gesagt, was sie dachte. Anfangs hat mich ihre Offenheit erschreckt. Auf meine Frage nach den Möglichkeiten, die es außer einer Transplantation für Jacqueline gibt, hat sie mir damals geantwortet: „Gar keine, dann lassen wir sie sterben.“ Heute weiß ich, dass man diesen Weg nur aushalten kann, wenn man sein Kind und vor allem sich selber nicht belügt. Tanja beginnt zu reden und sie bedankt sich bei ihrer Tochter für die gemeinsamen Jahre. Sie verspricht ihrem Kind, sie nie zu vergessen und immer lieb zu haben. Der größte Teil der Menschen in der Kapelle ist inzwischen in Tränen aufgelöst, aber Tanja spricht ruhig weiter. „Dein Herzenswunsch war eine Fahrt mit dem Heißluftballon, den wir dir leider nicht mehr erfüllen können. Darum schicken wir dir heute viele Ballons dort hin, wo du jetzt bist.“ Als wir aus der Kapelle gehen, verteilen vier Männer bunte Luftballons an die Menschen. Auf dem Weg zum Grab drehe ich mich um. Die schweigende, schwarze Menschenmenge bildet einem krassen Gegensatz zu den bunten Ballons, die sich im Wind hin und her wiegen. Als der Sarg hinab gelassen wird, lassen alle ihre Ballons in den Himmel steigen. Beim Anblick der immer kleiner werdenden, bunten Punkte am Himmel denke ich plötzlich: - Das ist es -. Schöner kann man die Trennung von Körper und Seele nicht symbolisieren. Hoch oben die bunten Ballons, die sich tanzend auf ihren Weg in den Himmel machen - am Boden die schwarz gekleideten Menschen und der Sarg. Das „Loslassen“ bekommt im wahrsten Sinne des Wortes eine Bedeutung. Ich beobachte die Menschen, die entgegen meiner sonstigen Erfahrung nicht auf den Boden starren, sondern in den Himmel schauen und ich denke bei mir: - das ist die richtige Richtung -. Ich sehe in Tanjas Gesicht und entdecke so etwas wie Ruhe und Zufriedenheit. Sie hat sich eindeutig am besten auf diesen Tag vorbereitet. Es ist ein Abschied von der Zeit mit ihrer Tochter, das Loslassen und Annehmen hat sie bereits hinter sich. Die Fragen nach dem Warum und das Auflehnen gegen das Unvermeidliche sind lange vorbei. Meine Vermutungen bestätigen sich: Man kann sich darauf vorbereiten wenn man bereit ist, sich der Wahrheit zu stellen.

Als ich wieder in der Kurklinik ankomme, fragt Annika, wo ich war. „Auf einer Beerdigung“, antwortet Andreas ohne nachzudenken. Annika weiß natürlich sofort, was das bedeutet. „Wer ist denn gestorben?“, fragt sie mich. „Jacqueline“, antworte ich und unterdrücke mühsam die Wut auf Andreas. Annika überlegt kurz und umarmt mich dann. „Ich sterbe bestimmt nicht“, versichert sie mir. Ich drücke sie fest. „Nein, du bist ja auch wieder gesund.“ 

Und von besonders schönen Momenten. 

Zu Hause beim Kaffeetrinken höre ich, wie Annika zu Nils sagt: „Ich bin so glücklich, dass ich nun mit der Chemo fertig bin.“ Auch Katy muss sich mehrmals anhören, wie froh sie darüber ist. Singend läuft sie durchs Haus. Ich habe gar nicht vermutet, dass sie so erleichtert ist. Trotzdem gibt sie zwischendurch immer wieder zu bedenken, dass sie sich Sorgen macht, dass nicht alle Krebszellen vernichtet worden sind. „Dafür machst du ja nun auch die Dauertherapie“, erklärt Nils. Abends kommen überraschend Ina, Margarete und Volker. Sie schenken Annika zur überstandenen Chemo einen Teddybären, der einen ganz kleinen Teddybären im Arm hält. „Das sind Annika und du“, sagt Margarete. Besser hätten sie es nicht ausdrücken können. Außerdem bekommen wir eine Karte. Darin steht: 

Liebe Anke, liebe Annika!

Ihr zwei habt viel geschafft!!! Wir wünschen euch für die Zukunft viele gesunde Leukos, viele Thrombos und einen guten Herzrhythmus.

Volker, Heike, Ina, Marvin, Michael und Margarete. 

Wir sitzen zusammen, trinken ein Glas Wein und erzählen von den vergangenen Monaten. Immer wieder kommt auch der Tag der Diagnose zur Sprache. Damals habe ich kein Land gesehen und nun ist der schwierigste Teil schon vorbei. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als in mir alles zusammenbrach. Dieses Empfinden ist kaum zu beschreiben. Mein Körper, meine Gedanken und meine Gefühle haben sich schlagartig zusammengeballt zu einem einzigen, alles betäubenden Schrei, der mich zerreißen wollte. Auch Ina, Volker und Margarete haben den Tag noch lebendig vor Augen. In Minuten hatte sich die Nachricht von Annikas Krankheit in der Familie verbreitet. Michael, Heike, Volker und Margarete waren gerade auf der Arbeit, und Ina war zu Hause. Sie haben sich sofort auf den Weg zu uns gemacht, weil ihnen ohne zu überlegen klar war, dass sie gebraucht wurden. Sie konnten sicherlich an diesem ersten Tag nicht viel für uns tun, aber sie waren einfach da. Sie haben mit uns geheult, gelitten und gehofft. „Es ist ein schönes Gefühl, diese Verbundenheit zu erleben“, stellt Volker fest. Als Familie waren wir stark und diese Erfahrung hat uns noch stärker werden lassen. Das ist ein unbezahlbares Kapital. Es ist schade, dass Andreas und seine Familie nicht ahnen, was sie verspielen.